Sexueller Übergriff, §§ 177 Abs.1 und Abs.2 StGB

Sexueller Übergriff ist ein hochsensibles Thema, das in der Gesellschaft häufig zu intensiven Debatten führt. 

Was genau besagt § 177 Abs.1 und Abs.2 StGB? 

(1) Wer gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person sexuelle Handlungen an dieser Person vornimmt oder von ihr vornehmen lässt oder diese Person zur Vornahme oder Duldung sexueller Handlungen an oder von einem Dritten bestimmt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. 

(2) Ebenso wird bestraft, wer sexuelle Handlungen an einer anderen Person vornimmt oder von ihr vornehmen lässt oder diese Person zur Vornahme oder Duldung sexueller Handlungen an oder von einem Dritten bestimmt, wenn

  1. der Täter ausnutzt, dass die Person nicht in der Lage ist, einen entgegenstehenden Willen zu bilden oder zu äußern,
  2. der Täter ausnutzt, dass die Person auf Grund ihres körperlichen oder psychischen Zustands in der Bildung oder Äußerung des Willens erheblich eingeschränkt ist, es sei denn, er hat sich der Zustimmung dieser Person versichert,
  3. der Täter ein Überraschungsmoment ausnutzt,
  4. der Täter eine Lage ausnutzt, in der dem Opfer bei Widerstand ein empfindliches Übel droht, oder
  5. der Täter die Person zur Vornahme oder Duldung der sexuellen Handlung durch Drohung mit einem empfindlichen Übel genötigt hat. 


 

Wann liegt ein sexueller Übergriff vor? 

Ein sexueller Übergriff liegt in zwei Varianten vor. Unter Strafe gestellt ist dabei die Vornahme sexueller Handlungen ...

  1. gegen den (nach außen erkennbaren) Willen des Opfers, §177 Abs.1 StGB oder
  2. unter Ausnutzen oder Herstellen von Willensproblemen beim Opfer, §177 Abs.2 StGB



Unterscheidung zwischen Absatz 1 und Absatz 2

  • Abs.1 behandelt Fälle, in denen jemand gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person sexuelle Handlungen an dieser vornimmt oder von ihr vornehmen lässt.
  • Abs.2 fokussiert auf Fälle, in denen der Täter ausnutzt, dass das Opfer aufgrund expliziter Willensdefizite sich nicht wehren kann. 


Eine bloße Verängstigung vor dem Täter (ohne Nötigungslage), unter Druck setzen, Beharrlichkeit oder Überreden ohne dass der Wille dadurch aufgehoben ist, führt also zu einer Strafbarkeitslücke, wenn der entgegenstehende Wille nicht erkennbar gemacht wird. 


Welche Voraussetzungen müssen für die Strafbarkeit erfüllt sein?

  1. Es muss eine sexuelle Handlung vorliegen.
  2. Im Fall des Abs.1 muss diese Handlung gegen den erkennbaren Willen des Opfers geschehen. (nein = nein) 
  3. Im Falle des Abs.2 muss das Opfer sich in einer Lage befinden, in der es sich nicht wehren kann, und der Täter muss dies ausnutzen oder herstellen. 



Was versteht man dabei unter "erkennbarem Willen"?

Der "erkennbare Wille" ist ein Schlüsselbegriff. Es muss klar sein, dass das Opfer die sexuelle Handlung nicht wünscht. Das kann durch Worte, Gesten oder andere Handlungen zum Ausdruck kommen. Nicht immer ist ein lautstarkes "Nein" erforderlich - der Gegenwille kann auch nonverbal geäußert werden. Entscheidend ist, ob eine objektiv außenstehende Person die Kundgabe als Gegenwillen verstehen würde.
Strafbar wäre es nicht, wenn eine sexuelle Handlung vorgenommen wird, ohne dass der Täter weiß, dass die andere Person die sexuelle Handlung explizit nicht möchte.
Eine Strafbarkeit scheidet nach aktueller Rechtsprechung auch aus, wenn sich die andere Person zur sexuellen Handlung hat überreden lassen. Hier dürfte jedoch genau darauf zu achten sein, ob ein klassisches "Überreden" vorliegt oder Druck im Sinne einer sexuellen Nötigung ausgeübt wurde.

Der entgegenstehende Wille muss mit der Rechtsprechung des BGH eindeutig feststellbar und hinreichend belegbar sein (BGH (1. Strafsenat), Beschluss vom 04.12.2018 – 1 StR 546/18).  Missverständliche, amivalente oder uneindeutige Willensäußerungen genügen für eine Verurteilung nicht.


Beispiele für Situationen des Absatz 2

  • Narkose
  • Koma
  • schwere Rauschzustände
  • schwere Schockzustände 
  • Schlaganfall
  • geistige Behinderung
  • Intelligenzminderung
  • Konsum von Drogen oder Alkohol
  • Delirium
  • Benommenheit 
  • “Klima der Gewalt” ausgenutzt
  •  Konkrete Drohung bei Weigerung 


Die jeweilige Beeinträchtigung muss dabei im Einzelfall für eine Verurteilung nicht nur erheblich sein, sondern auch für die konkrete Situation der sexuellen Handlung beweisbar gemacht werden können. Beispielsweise müssen schwere Rauschzustände aktenfest gemacht werden können, zum Beispiel durch Blutentnahmen. Nur so können zweifelsfreie Rückschlüsse auf eine mögliche erhebliche Willensbeeinträchtigung gezogen werden.

Kritisch ist bei Konstellationen nach Absatz 2 auch oft, ob zweifelsfrei bewiesen werden kann, dass der Beschuldigte vollumfänglich vorsätzlich gehandelt hat, also insbesondere diese Willensbeeinträchtigung in dem Ausmaß erkannt hat und sich trotzdem darüber hinweg gesetzt hat. Hier bieten sich für die Verteidigung entscheidende Angriffspunkte.


Welche Verteidigungsstrategien gibt es in solchen Verfahren?

  1. Einvernehmlichkeit: Ein häufiger Ansatz ist, dass die sexuelle Handlung einvernehmlich war. Dies kann durch Zeugenaussagen, Nachrichten oder andere Beweismittel gestützt werden.
  2. Fehlende Beweise: Wenn nicht ausreichend Beweise für den Vorwurf vorliegen, sollte auf einen Freispruch hingearbeitet werden.
  3. Glaubwürdigkeitsprüfung: Die Aussagen des Opfers können auf Widersprüche oder Ungereimtheiten geprüft werden. Auch muss kontrolliert werden, ob die Angaben extrinsisch oder intrinsisch beeinflusst wurden. 
  4. Vorsätzlichkeit: Der Täter muss den Gegenwillen/das Willensdefizit erkannt haben und dennoch entsprechenderweise gehandelt haben


In vielen Fällen von sexuellem Übergriff gibt es nur die Aussagen des Opfers und des Beschuldigten, ohne weitere Zeugen oder stichhaltige Beweise. Das macht die Aufklärung und Beweisführung für den Vorwurf besonders schwierig. Eine fehlende Einvernehmlichkeit oder die Situation, in welcher Willensdefitzite der anderen Person möglicherweise ausgenutzt wurden, muss zweifelsfrei bewiesen werden, damit der Beschuldigte verurteilt werden kann. Liegen begründete Zweifel am Beweismittel (insbesondere an der Zeugenaussage der Belastungszeugin) vor, hat ein Freispruch zu ergehen. Es ist Aufgabe der Strafverteidigung, dies akribisch zu kontrollieren.

Ein erfahrener Strafverteidiger kann den Unterschied zwischen einem fairen und einem voreingenommenen Verfahren ausmachen. Es ist unabdingbar, jeden Fall individuell zu betrachten und die bestmögliche Verteidigungsstrategie zu entwickeln.