Wann liegt ein Jugendstrafverfahren vor und wann wird nach dem erwachsenen Strafrecht verhandelt?

 

Das deutsche Jugendgerichtsgesetz (JGG) regelt, wann Jugendliche und Heranwachsende nach Jugendstrafrecht oder nach allgemeinem Erwachsenenstrafrecht verhandelt werden. Die Bestimmungen dazu sind insbesondere in den §§ 1, 3 und 105 JGG festgelegt.


Definition von Jugendlichen und Heranwachsenden

  • Jugendliche nach § 1 Abs. 2 JGG sind Personen, die zur Zeit der Tat 14, aber noch nicht 18 Jahre alt sind.
  • Heranwachsende nach § 1 Abs. 2 JGG sind Personen, die zur Zeit der Tat 18 Jahre, aber noch nicht 21 Jahre alt sind.



Anwendung des Jugendstrafrechts

Jugendliche
Das Jugendstrafrecht ist grundsätzlich für alle Jugendlichen anzuwenden, unabhängig von der Schwere der Tat.

Heranwachsende
Für Heranwachsende gibt es spezielle Regelungen, die in § 105 JGG dargelegt sind.

Bewertungszeitpunkt
Wichtig ist zu erwähnen - weil es oftmals paradox wirkt - dass sich die Auswahl zwischen Jugendstrafverfahren und Erwachsenenstrafverfahren danach entscheidet, welches Alter der Beschuldigte zum Zeitpunkt der Tat hatte. Unerheblich ist das derzeitige Alter der Verhandlung.
Ist das Verfahren nicht verjährt, und eine Person ist bei Einleitung der Ermittlungen zum Beispiel nicht mehr 16 Jahre alt sondern 50 Jahre alt, wird trotzdem als Jugendstrafverfahren verhandelt. Dies wirkt deswegen oftmals paradox, weil das Jugendstrafverfahren ja dem Erziehungsgedanken folgt und die Rechtsfolgen entsprechend der Erziehung des Beschuldigten dienen sollen.


§ 105 JGG und die Anwendung bei Heranwachsenden

Nach § 105 Abs. 1 JGG wird auf Heranwachsende Jugendstrafrecht angewandt, wenn:

  1. Die Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters ergibt, dass er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand (Bewertung der Täterpersönlichkeit),


 oder


  1. Es sich bei der Tat um eine typische Jugendverfehlung handelt (Bewertung der Tathandlung).


Die Entscheidung, ob bei Heranwachsenen Jugendstrafrecht zur Anwendung kommt, erfolgt auf der Grundlage einer Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Heranwachsenden und/oder der spezifischen Umstände der Tat. Dabei spielen auch pädagogische Erwägungen eine Rolle, denn das Jugendstrafrecht zielt vorrangig auf die Erziehung und nicht primär auf die Bestrafung ab.

Die Gerichte können sich im Zweifel auf psychologische Gutachten und sozialpädagogische Stellungnahmen stützen, um eine fundierte Entscheidung über die Anwendung von Jugendstrafrecht treffen zu können. Diese umfassende Beurteilung soll sicherstellen, dass die rechtliche Reaktion angemessen und förderlich für die weitere Entwicklung des Heranwachsenden ist. In erster Linie sind Jugendrichter jedoch erstmal befähigt, die entsprechende Einordnung selbst vorzunehmen. 


1. Alternative: Entwicklungsstand gleich einem Jugendlichen

Die erste Alternative des § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG betrifft die sittliche und geistige Entwicklung des Täters zur Zeit der Tat. Hier wird Jugendstrafrecht angewendet, wenn der Heranwachsende in seiner Entwicklung einem Jugendlichen gleichsteht.

Definition und Beurteilung:
Die Beurteilung der Entwicklung bezieht sich auf die emotionale, soziale und intellektuelle Reife. 

Wichtige Indikatoren können sein:

  • Emotionale Reife: Fähigkeit, mit Emotionen umzugehen und diese in sozial akzeptabler Weise zu regulieren.
  • Soziale Reife: Fähigkeit zur Interaktion mit Gleichaltrigen und Erwachsenen in einer gesellschaftlich erwünschten Weise.
  • Intellektuelle Reife: Fähigkeit, die Folgen des eigenen Handelns zu verstehen und Entscheidungen zu treffen.


Beispiel:
Ein 19-jähriger Heranwachsender, der stark von seinen Eltern abhängig ist, kaum Verantwortung im Alltag übernimmt und Schwierigkeiten hat, die Konsequenzen seiner Handlungen zu überblicken, könnte noch die Reife eines Jugendlichen aufweisen.


2. Alternative: Tat als Jugendverfehlung

Die zweite Alternative nach § 105 Abs. 1 Nr. 2 JGG berücksichtigt die Art der Tat. Hierbei wird Jugendstrafrecht angewandt, wenn die Tat nach Art, Umständen oder Beweggründen eine Jugendverfehlung darstellt.

Definition und Kriterien:
Eine Jugendverfehlung ist eine Tat, die typischerweise aus der Unreife des Jugendalters resultiert. Dies umfasst Taten, die auf mangelnder Erfahrung, jugendlichem Leichtsinn oder dem Einfluss von Gleichaltrigen beruhen.

Beispiel:
Ein typisches Beispiel könnte Vandalismus sein, der aus Gruppenzwang in einem jugendlichen Umfeld resultiert, oder der Diebstahl geringwertiger Gegenstände aus einem spontanen, unüberlegten Impuls heraus.


Rolle der Marburger Richtlinien

Die Marburger Richtlinien sind ein unverbindliches Hilfsmittel, das von Experten entwickelt wurde, um Richtern eine praktische Anleitung zu geben, wie sie entscheiden können, ob ein Heranwachsender noch dem Jugendstrafrecht unterliegt. Diese Richtlinien enthalten Empfehlungen und Beispiele, welche Kriterien bei der Beurteilung der Reife berücksichtigt werden sollten, wie z.B. die Fähigkeit zur selbständigen Lebensführung, das Maß an Verantwortungsbewusstsein und die Fähigkeit, die Konsequenzen des eigenen Handelns zu überblicken.


Verhandlung nach Erwachsenenstrafrecht

Heranwachsende werden nach Erwachsenenstrafrecht verhandelt, wenn keine der Bedingungen des § 105 JGG erfüllt ist. Dies bedeutet, dass das Gericht eine Reife feststellt, die dem eines Erwachsenen entspricht, und/oder die Tat keine typische Jugendverfehlung darstellt. Bei Jugendlichen finden stets Jugendstrafverfahren statt.


Zusammenfassung

Jugendstrafrecht fokussiert auf Erziehung und weniger auf Strafe, und ist daher die bevorzugte Rechtsprechung für Jugendliche und in vielen Fällen auch für Heranwachsende. Die Entscheidung, ob auf einen Heranwachsenden das Jugend- oder das Erwachsenenstrafrecht angewendet wird, hängt stark von der individuellen Entwicklung und den Umständen der Tat ab. Die Marburger Richtlinien spielen dabei eine unterstützende Rolle, indem sie Kriterien vorgeben, die bei der Beurteilung der Reife zu berücksichtigen sind.


Beauftragen Sie Jugendstrafverteidigerin Hannah Funke.